M.Luter -von ULRIKE JUREIT
Wer schützt Luther vor seinen Lobrednern?
Der Bundestag trägt zur Legendenbildung bei, wenn er einen engen Bezug Luthers zur Moderne herstellt. Das Freiheitsverständnis des Reformators ist mit den Freiheitsrechten der liberalen Demokratie nicht zu verwechseln. Ein Gastbeitrag.
26.03.2017, von ULRIKE JUREIT
© DPAIst dieser Rabauke jubiläumsfähig? Ja, wenn man ihn nicht in falscher Weise vereinnahmt.
Neben der in der Lutherstadt Wittenberg produzierten Luther-Tomate, die vor allem durch ihren süßen Geschmack und ihren festen Biss überzeugt, erfreut sich die von Playmobil bereits im letzten Jahr auf den Markt gebrachte Lutherfigur allseits großer Beliebtheit. Rechtzeitig zum anstehenden Jubiläum am 31. Oktober 2017, das erwartungsgemäß auch ein internationales Publikum ansprechen wird, sind zudem die bereits bewährten Luther-Socken nun endlich auch mit englischer Aufschrift zu haben: Here I stand, I can do no other.
Dank eines raffinierten Eventmarketings werden sich die Umsätze im Umfeld des Reformationsjubiläums wohl auf mehr als eine Milliarde Euro summieren. Dass der 500. Jahrestag der Reformation rechtzeitig und professionell vermarktet werden will, darauf hatte bereits der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 26. Juni 2008 großen Wert gelegt: Deutschland könne sich „im Rahmen der Kampagnen zur Lutherdekade und zum Reformationsjubiläum 2017 einmal mehr, wie etwa zur Fußballweltmeisterschaft 2006, als offenes und gastfreundliches Land präsentieren“. Neben der Chance zur „theologischen und wissenschaftlichen Reflexion“ käme angesichts Millionen reisewilliger Protestanten den „touristischen sowie ökonomischen Synergieeffekten“ eine „besondere Bedeutung“ zu.
Ungeniert volkspädagogisch
Wie andere Reformationsjubiläen zuvor, man denke an den bis heute nicht überwundenen „deutschen Luther“ des 19. Jahrhunderts, wird sich auch „2017“ einmal fragen lassen müssen, welche zeitgenössischen Deutungen staatlicher- wie kirchlicherseits eigentlich im Zentrum der Gedenkfeierlichkeiten standen. Das aus hochrangigen Vertretern von Kirche und Staat bestehende Kuratorium entschied sich für eine visuelle wie kommunikative „Dachmarke“, die das in sattem Schwarz-Rot-Gold gehaltene Lutherporträt des älteren Lucas Cranach mit dem (falsch zitierten) ersten Satz des Johannesevangeliums („Am Anfang war das Wort“) kombiniert.
Ähnlich abwegig ist die „kommunikative Klammer“ für die drei „nationalen Sonderausstellungen“ in Berlin, Wittenberg und Eisenach, die landesweit mit dem Slogan „3xhammer.de“ angepriesen werden. Der stilisierte Hammer in den Farben Cyan, Magenta und Gelb flankiert die historisch durchaus fragwürdige Botschaft von der „volle(n) Wucht der Reformation“. Und ungeachtet jedweder wissenschaftlicher Erkenntnis gibt man sich darüber hinaus auch noch ungeniert volkspädagogisch, wenn es heißt, dass der Hammer die „Reformation zum Anfassen“ symbolisiere.
Ein enger Bezug zur europäischen Moderne
Die kirchlichen wie staatlichen Deutungsangebote beschränken sich nicht auf derlei Werbekampagnen. Ganz im Gegenteil: Die Reformation sei – so die EKD in ihrem Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit“ – „ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung“, das „nicht allein Kirche und Theologie, sondern das gesamte private und öffentliche Leben verändert und bis in die Gegenwart (mit) geprägt“ habe. Vor allem als Freiheitsgeschichte will die EKD die Reformation offenbar gedeutet wissen. Zwar sei der christliche Freiheitsbegriff, wie Luther ihn verstand und geprägt hat, „nicht bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu identifizieren“, und doch stehe er „in enger Beziehung zur europäischen Freiheitsgeschichte“. Neben dem Bildungsimpuls, der von der Reformation ausgegangen sei, habe sie zudem „zur Ausbildung der modernen Grundrechte“ und zu einem veränderten „Verhältnis von Kirche und Staat“ beigetragen. Und sie habe Anteil an der Entstehung „des modernen Demokratieverständnisses“ gehabt. Luther sei eine kraftvolle Symbolfigur, die „einerseits zum Widerspruch herausfordert“, andererseits mit „Beharrlichkeit, Wagemut und Überzeugungskraft zur Identifikation einlädt“.
Der Deutsche Bundestag nimmt das nicht nur auf, sondern sieht im Reformationsjubiläum sogar die Möglichkeit, „die christliche Verwurzelung sowie die Beiträge des christlichen Glaubens und der Kirche zur sozialen Verantwortung, zur Ausbildung moderner Grundrechte und den Grundlagen der Demokratie“ zu thematisieren. Obgleich man sich eine direkte Linie offenbar nicht zu ziehen traut, wird über die „Ausbildung von Eigenverantwortlichkeit und Gewissensentscheidung“ wiederholt ein enger Bezug zur europäischen Moderne hergestellt. Freiheit, Toleranz, Bildung, Menschenrechte und Demokratie – ausnahmslos Sinnstiftungen, die die Reformation zu einer Art Urknall der europäischen Moderne stilisieren.
Hier soll Geschichte vor allem gefühlt werden
Historisch sind solche Redensarten nicht überzeugend. Luthers Freiheitsbegriff unterschied sich fundamental von einem aufklärerischen Verständnis, wie es später für die beginnende Moderne grundlegend wurde, und auch jedwede Form von Toleranz ist fern von dem, was die religiösen Erneuerungsbewegungen des 16. Jahrhunderts auszeichnete. Menschenrechte und Demokratie? Es gehört nicht viel dazu, in diesen Inanspruchnahmen das zuweilen schon fast hilflose Bemühen zu erkennen, eine Geschichte und ihre Protagonisten, die uns heute in vielerlei Hinsicht fremd sind, mit gegenwartstauglichem Sinn zu versorgen.
Die aktuellen Anstrengungen zum Reformationsjubiläum 2017 verdeutlichen hinlänglich den Wunsch, sich identifikatorisch auf den 31. Oktober 1517 zu beziehen. Es scheint kaum noch möglich, historische Großereignisse zu vergegenwärtigen, ohne danach zu fragen, welches Identitätsangebot diese Vergangenheit für uns heute bereithält. Das überrascht nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass unsere Erinnerungskultur, vor allem in Deutschland aufgrund der Geschichte des Nationalsozialismus, bereits seit Jahrzehnten zu einer von Identitätsfragen gesteuerten Naherinnerung neigt. Sie macht es überaus beschwerlich, historische Bezugsereignisse früherer Epochen in ihrer zeitgenössischen Komplexität jenseits vorschneller Skandalisierungen und affektgesteuerter Mitmachangebote zu vergegenwärtigen. An den zunehmend touristisch und kommerziell gestalteten, gleichwohl als authentisch deklarierten Orten will Geschichte offenbar weniger erlernt, reflektiert oder verstanden, sie will vor allem erlebt und gefühlt werden.
Reformation als verstörende Konfliktgeschichte
Dabei besteht die Herausforderung in einer doppelten Historisierung, wie der Reformationshistoriker Heinz Schilling nachdrücklich betont: Erstens sollten wir uns „die Reformationsepoche als eine uns heute zutiefst fremde Welt vor Augen stellen – fremd und in vielem schwer begreiflich aufgrund ihrer ganz anderen politischen und rechtlichen Institutionen, mehr noch durch Glaubens- und Denkstrukturen, die nicht mehr die unsrigen sind“. Zweitens habe ein so herausragendes Reformationsjubiläum wie das jetzige „die Rezeptions- und Gedächtnishalde aufzuarbeiten. Die über fünf Jahrhunderte angehäuften Schichten sind abzutragen und gleichsam archäologisch zu analysieren, um das uns nur zu vertraute, in vielem aber verzerrte, nicht selten durch Mythen verstellte Bild von Luther, seiner Reformation und deren Weltwirkungen zu dekonstruieren und durch eine wissenschaftlich fundierte Interpretation zu ersetzen.“
Ist eine von Judenfeindschaft und anderen Ressentiments getriebene „vormoderne Existenz“ wie Martin Luther überhaupt jubiläumsfähig? Der Versuch, unsere heutigen politischen Ordnungssysteme in die Kontinuität spätmittelalterlicher Lebens- und Glaubenswelten zu stellen, steht unweigerlich in der Gefahr, einzelne Aspekte wie den theologischen Freiheitsbegriff oder das spätmittelalterliche Partizipationsverständnis zu enthistorisieren, um sie gegenwärtig überhaupt im Sinne der intendierten Identitätsstiftung kommunizieren zu können. Es ist nicht nur im Falle der Reformation, sondern angesichts rasanter gesellschaftlicher Veränderungen grundsätzlich zu fragen, ob ein auf homogene Gemeinschaften ausgerichteter Identitätsbegriff noch den Kern gesellschaftlicher Vergegenwärtigungen von Geschichte beschreibt oder es nicht vielmehr bestimmte Gebrauchskonjunkturen, Konsumgewohnheiten sowie Unterhaltungs- und Marktmechanismen sind, die mittlerweile unsere Vergangenheitsbezüge dominieren. Das anstehende Reformationsjubiläum verweist ja gerade durch die hergestellte Kirchenspaltung wie auch durch die Ausbildung mehrerer reformatorischer Bekenntnisse und die langfristigen globalen Säkularisierungseffekte darauf, dass eine auf kollektive Identitätsstiftung und homogene Gemeinschaft zielende Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert höchst problematisch ist. Sie hat sich mit erheblichen Deutungs- und Aktualisierungsschwierigkeiten auseinanderzusetzen. Die Reformation war eben nicht der glorreiche Auftakt einer langen europäischen und bis heute identitätsstiftenden Freiheitsgeschichte, sie war vor allem eine verstörende, in weiten Teilen bestürzend gewalthafte und auf die Ambivalenzen der späteren Moderne bereits verweisende Konfliktgeschichte.
Ein Sprengsatz für die damalige christliche Welt
Die Reformation war im Kern zunächst ein theologischer und alsbald ein ekklesiologischer Konflikt, der vor allem deswegen so gravierende politische, gesellschaftliche und soziale Erschütterungen mit sich brachte, weil das spätmittelalterliche Europa eben keine Trennung von geistlicher und weltlicher Macht kannte. Es handelte sich somit um eine Gesellschaft, die nicht in unserem heutigen Sinne funktional differenziert war. Luthers vehemente Kritik am Ablasshandel, sein Kampf gegen klerikale und päpstliche Bevormundung, sein theologisches Freiheitsverständnis wie auch seine später so bezeichnete „Zwei-Reiche-Lehre“ stellte das mittelalterliche „Corpus Christianum“ zwar unbeabsichtigterweise, aber doch radikal in Frage.
Die religiösen Erneuerungsbewegungen des 16. Jahrhunderts, zu denen auch die katholischen Reformbestrebungen des Spätmittelalters gehörten, wiesen ebenso wie das nachfolgende Zeitalter der Konfessionalisierung spezifische Gewalt- , Ordnungs- und Vergesellschaftungsdynamiken auf, die es nahelegen, hier von einer europäischen Konfliktgeschichte mit globaler Wirkungskraft zu sprechen. Unterscheidet man mit Albert O. Hirschmann zwischen Konflikten, „die ein positives Nebenprodukt von Integration zurücklassen, und jenen, die die Gesellschaft zerreißen“, dann ist Letzteres zweifellos eine adäquate Beschreibung für das, was 1517 in Wittenberg seinen Anfang nahm. Dass der Mensch nicht durch Papst, Kirche oder Klerus, sondern unmittelbar zu Gott in Beziehung steht und in diesem Gott-Mensch-Verhältnis auch seine ihm nicht weltlich zuerkannte, sondern gottgegebene Würde begründet ist – diese Theologie sprengte die damalige christliche Welt unwiderruflich auseinander.
Eine ebenso neue wie folgenreiche Verklammerung
Die Reformation war zweifellos ein Ereignis, das sich alsbald nach der für unteilbare Konflikte typischen Entweder-oder-Logik rasant dynamisierte. Die Sprengkraft der dadurch in Unordnung geratenen Herrschaftskonstellationen zeigte sich in einer für das damalige Europa beispiellosen Gewalteskalation. Die Religions-, Konfessions- und Staatsbildungskriege des 16. und 17. Jahrhunderts gehören zu den grausamsten und verlustreichsten Kriegen, die Europa je gesehen hat.
Wenn es gilt, zum 500. Reformationsjubiläum auch diese frühneuzeitlichen Gewalterfahrungen zu vergegenwärtigen, dann schließt sich die Frage an, welche Bedeutung den aus diesen epochalen Umwälzungen gewachsenen Konfliktlösungsstrategien heute in einer Welt zukommt, die sich mit den Herausforderungen religiöser Pluralität erneut konfrontiert sieht. Historisch ist zunächst hervorzuheben, dass Luther und einige andere Reformatoren die Gewährleistung weltlicher wie geistlicher Ordnung vor allem durch die Fürsten garantiert sahen. Damit begründeten sie für die weitere Konfliktentwicklung eine ebenso neue wie folgenreiche Verklammerung von Protestantismus und Obrigkeit. Europa stand vor der Herausforderung, die aus konkurrierenden Wahrheits-, Macht- und Ordnungsansprüchen resultierenden Gegensätze in regulierbare und damit gesellschaftlich wieder integrierbare Konflikte zu transformieren.
Impulse für die Rechtsentwicklung
Dass die bisherige Ordnungsmacht in Rom zunächst alles daransetzte, die Gruppe der Abweichler durch disziplinäre Maßnahmen mundtot zu machen, trug zweifellos zur Verschärfung der bestehenden Kontroversen bei. Das über Jahrhunderte erprobte und tradierte Instrumentarium der römischen Konfliktregulierung erwies sich letztendlich als ungeeignet, eine theologische Verständigung herzustellen, die geeignet gewesen wäre, das blutige Gemetzel der nachfolgenden Bürgerkriege noch rechtzeitig zu verhindern.
Resultat dieser kirchlichen wie politischen Konfrontation war indes nicht die heute so hartnäckig als Erbe der Reformation beanspruchte Religionsfreiheit, sondern die Kirchenspaltung sowie der auf homogenem Bekenntnis gründende Konfessionsstaat. Er prägte auch noch weit nach dem Westfälischen Frieden von 1648 die politische Ordnung Europas. Wenngleich das Gegen- und Nebeneinander verfeindeter Konfessionen und Kirchen einen wesentlichen Kern der historischen Erfahrung darstellt, forcierten diese Auseinandersetzungen zugleich die Institutionalisierung langfristig tragfähiger Lösungs- und Regulierungsansätze.
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MEHR ERFAHREN
Europa war infolge der Reformation darauf verwiesen, die in religiöser Feindschaft gründende Gewalt einzuhegen, die entstandene Pluralität religiöser Bekenntnisse rechtlich zu sichern wie auch den beginnenden Prozess der Säkularisierung politisch zu gestalten. Die Forschung geht mittlerweile davon aus, dass von der konfessionellen Konkurrenz des 16. Jahrhunderts entscheidende Impulse für die europäische Rechtsentwicklung, für die Ausbildung von Friedens- und Konfliktrechten wie auch für das auf Gewalteinhegung zielende Strafrecht ausgingen.
Hier täte ein wenig Aufmerksamkeit Not
Ein Ergebnis der Reformation ist also, dass Glaubensfragen in einer säkularen Ordnung als staatlich garantierte Rechtsverhältnisse zu fassen sind. Gleichzeitig wurde deutlich, dass religiöse und kulturelle Vielfalt in einem freiheitlichen Europa jedem Einzelnen auch zumutbar ist. Bis zu diesen epochalen Errungenschaften war es zwar noch ein weiter und immer wieder durch Gewalt bestimmter Weg. Irritierend bleibt aber gleichwohl, dass diesem historischen Erfahrungswissen in der aktuellen Vergegenwärtigung der Reformation bisher relativ wenig Relevanz zukommt. Erstaunlich ist diese Vergesslichkeit vor allem deswegen, weil sich Europa heute – wie seit sehr langer Zeit nicht mehr – durch religiöse Gewalt, durch konkurrierende Wahrheitsansprüche und auch durch kulturelle Pluralisierung in seinem Selbstverständnis in Frage gestellt sieht.
Das Reformationsjubiläum 2017 täte gut daran, diesem historischen Resonanzraum doch noch die notwendige, wenngleich bisher ausgebliebene Aufmerksamkeit zu schenken. Denn die von den spätmittelalterlichen Reformatoren erkannte Weltlichkeit der Welt zeigt sich aktuell wohl nirgendwo so dramatisch wie in unserer von religiöser Gewalt in Frage gestellten Rechtsordnung.
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Ulrike Jureit ist Neuzeithistorikerin und Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Der Artikel ist die gekürzte Fassung eines Beitrags der Autorin in dem von Udo Di Fabio und Johannes Schilling herausgegebenen Buch “Weltwirkung der Reformation – Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat“ (C.H. Beck, München 2017, 213 S., br., 16,95 €).
Quelle: F.A.Z.